Seit nunmehr vier Wochen liegt der vermeintlich topfitte Skifahrer nun im Krankenhaus. Oberschenkelhalsfraktur. Aus Sicht des Arztes wohl eher eine Lapalie. Aus der Sicht des Patienten wird es ein Albtraum werden.
Fast zwei Wochen verbringt er im Riesengebirgskrankenhaus von Vrchlabi (Hohenelbe, Tschechien). Allein, verständigungslos, sprachlich abgeschnitten von der Außenwelt. Man hat ihn auf Diät gesetzt, eine Folge eines Zuckersturzes infolge eines dem Unfall folgenden Schocks nach einer langen, wenig schonenden Operation.
Noch Tage nach der Operation schmerzt ihn der Genitalbereich mehr, als der Bruch. Auch macht ihm Taubheit in den Genitalien Sorgen. Sie ist wohl eine Folge des Sporns. Um sicher zu stellen, daß das operierte Bein nachher nicht kürzer als das andere ist, wird der Patient auf einer Streckvorrichtung mit zwanzig-Kilogramm-Gewichten an jedem Bein operiert. Der im Bett befindliche Sporn dient als Gegenlager.
"Du operieren, Bein kaputt!" Nach dem Röntgen wird eine Beruhigungsspritze verabreicht. Ein grüner Schirm vor seinem Gesicht sorgt für Vertuschung. Noch ehe die Spritze Wirkung zeigt, heult eine Heimwerker-Bohrmaschine auf. Ein stechender Schmerz, Gestank nach verbranntem Fleisch und das Niederdrücken durch die Schwester folgen. Schon ist ein Metalldraht durch den Unterschenkel kurz unterhalb des Knies gebohrt, der in einer Art Laubsägebogen fixiert wird. "Ihr Drecksäcke, daß könnt Ihr doch nicht mit mir machen!" - murmelt unser Held in den Bart und windet sich vor Schmerz. Doch sie können - ohne Probleme.
Man stellt fest, daß jetzt Feierabend ist, 17.30 Uhr. Nichts mehr zu machen. "Du morgen früh Operation!". Das Bein wird an eine Knieschiene gewickelt, die genau an der Bruchstelle endet. Jede noch so winzige Körperbewegung löst fortan den gräßlichsten Schmerz aus, den man sich vorstellen kann. Die Laubsäge wird zu allem Überfluß an ein Gewicht gehängt, welches bei jeder Bettbewegung sacht hin und her pendelt. Die Bruchstelle sticht schon beim Durchatmen. Winzige Lageveränderungen verursachen fortan panische Stiche.
An Schlaf ist nicht zu denken. Der Patient quält sich durch die endlosen Sekunden, Minuten und Stunden der Nacht. Minute um Minute zieht sich hin. Die Fixierung erlaubt kein Luftholen, kein Sprechen, keine Bewegung. Kein Drehen, keinen noch so vorsichtige Lagewechsel des anderen Beins oder des Körpers. Sobald sich der Körper in die Freiheit des Schlafes lullt, bewegt er sich. Jedes Einnicken wird durch einen barbarischen Stich bestraft. Selbst das folgende Zusammenzucken wird durch noch größere Pein bestraft. Teufelswerk von Menschen für Menschen erdacht. Nicht etwa im vierzehnten Jahrhundert, nein, im Zwanzigsten. Im Zeitalter der vermeintlich beginnenden Aufklärung und Humanität. Nicht als Marter für Ketzer ersonnen, nein, für Menschen, denen geholfen werden soll.
Dagegen war die Anfahrt mit dem Motorschlitten zum Krankenhaus eine Lapalie. Bis zur Talstation lag er in einem angehängten Wannenschlitten (Akja). Ein zweiter Mann mit Skiern stabilisierte den Schlitten mit zwei Seilen von hinten. An der Talstation wurde er auf einer Liege in einen Sankra geschoben. Um den Schmerz zu mildern, legte er sich auf die gesunde Seite, zog das kaputte Bein genau über das andere und steckte die Fäuste zwischen die Oberschenkel. Die schweren Skistiefel lagen ohne zu wackeln aufeinander. So hätte man die Nacht überstehen können.
Er beginnt zu phantasieren. Er will laut schreien. Aber statt eines Schreies lallt er nur undeutlich. Mit einem Beruhigungsmittel hatte man ihn der Sprache beraubt. Wehrlos wie ein Tier muß er die unglaublichsten Dummheiten über sich ergehen lassen. Sie tätscheln ihn und bedeuteten ihm, ruhig zu sein. Er hat sich noch nie so sehnlich gewünscht zu sterben, wie in dieser Nacht. Auch die Notruftaste bleibt unerreichbar weit entfernt. Es ist nicht daran zu denken, sich soweit recken zu können.
Mit dem Morgen kommt Erlösung durch Personal mit Spritze. Er nimmt es nur noch undeutlich wahr.
Am Abend nach der Operation besucht ihn seine Frau. Noch immer ohnmächtig registriert er es nicht. Sie macht sich große Sorgen. Irgendwann am nächsten Morgen erwacht er. Ihm ist übel. Er kotzt stundenlang, ohne daß etwas rauskommt. Offenbar war die Narkose viel zu heftig dosiert. Nachmittags, zur Besuchszeit lallt er nur einen Satz: "Hohl mich hier raus - bitte". Wieder ist er auf der folternden Knieschiene angeschnallt, und immernoch maltretierten ihn unsäglichste Stiche aus dem Bruchbereich schon beim Sprechen. Er fleht seine Frau unhörbar an. Sie reagiert beunruhigt.
Wußte die zarte und verletzliche Frau doch noch nicht einmal, wie ihre eigenen Probleme der Rückfahrt mit Auto, drei Kindern und Skigepäck zu lösen wären. Gerade hatte sie erst ihre Fahrerlaubnis gemacht. Wohl erscheint ihr bedrohlich, daß er so gelb- grünlich und abgemagert aussieht. Seine Pein spiegelt sich in ihrem Gesicht. Er merkt es. Zum ersten mal erlebt er seine sonst so stolze Frau konfus und hilflos. Mit den Tagen lassen die Schmerzen etwas nach. Bei der Visite versucht immer mal wieder einer der Ärzte, das verletzte Bein zu bewegen. Der Skifahrer bebt schon vorher. Stechender Schmerz bei jeder kleinsten Bewegung des Beins.
Im Gegensatz zu seinen Zimmernachbarn, die von ihren Angehörigen üppig versorgt werden, hat man ihn auf Diät gesetzt. Frau samt Familie waren nach Deutschland zurückgekehrt, kaum daß er wieder klar denken kann.
Er vermißt seine Brieftasche. Sicher hat sie die Frau mitgenommen, damit sie nicht gestohlen wird? Er kann nicht in Erfahrung bringen, wo sich seine persönlichen Sachen befinden. Shampoo läßt er sich von der Gattin des linken Nachbarn mitbringen. Sie war so nett es zu bezahlen, obwohl sie wußte, das er keinen Pfennig Geld besaß. Obst schenkte ihm ein jugendlicher, englisch sprechender Geschäftsmann zur Rechten. Zum Betteln war der Patient zu stolz. Erst bei der Entlassung zeigt sich das Versteck der Frau.
Er muß mit der spärlichen Kost des Krankenhauses zurechtkommen. Sie besteht morgens wie abends aus zwei frischen, zentimeterdicken Scheiben Mischbrot und einer Tasse Kakao, einer Tasse Gerstenkaffee oder einem Glas Buttermilch. Die anderen erhalten Hörnchen und Marmelade anstelle des Mischbrotes. Eine vorzügliche Delikatesse, wie ihm scheint. Aber die Nachbarn widmen ihre Aufmerksamkeit meist anderen Köstlichkeiten aus dem eigenen Nachtschrank. Ihre Hörnchen bleiben liegen. Er wäre lieber verhungert, als seine Gier zu offenbaren. Zu sehr fürchtet er, seine Zimmerkollegen mögen die mangelnde Fürsorge seiner Frau bemerken und Witzchen darüber machen.
Gelegentlich gelingt es, daß ihn ein Telefonat aus Deutschland erreicht. Auf der Station gibt es einen einzigen Telefonapparat, der an einer zwanzig Meter langen Schnur in die Zimmer gebracht wird. Da meist niemand da ist, der deutsch oder englisch spricht, ist es kaum möglich den Apparat zu erhalten. Aber selbst wenn man den Apparat hat, ist die Durchwahl eine Tortour. Zwölf Zahlen auf der Drehscheibe, zwischendrin immer wieder Besetztzeichen.
Wenn die Frau aus Berlin oder die Versicherung anruft, versteht man oft nicht den Patientennamen und die Zimmernummer. Es vergehen Tage, ohne daß eine Verbindung zustande kommt.
Noch immer ist für ihn unklar, wie und wann er nach Deutschland überführt werden kann. Die Tschechen erklären ihn für nicht transportfähig. Die Unfallversicherung versteckt sich hinter dem Vorwand, daß die Unfallanzeige zu spät, erst am Tage nach dem Unfall erfolgt war.
Als das Wochenende kommt, werden Streuselschnecken zum Kaffee gereicht. Der rechte Nachbar bekommt eine, schiebt sie zur Seite und ißt lieber eine Banane. Der linke Nachbar bekommt auch eine, läßt sie aber gar nicht erst auf den Nachttisch stellen.
Grenzenlose Traurigkeit überkommt ihn, als wieder eine Scheibe trockenes Mischbrot und ungesüßter Gerstenkaffee serviert wird. Er sehnt sich jetzt immer öfter nach dem Abend. Wenn es dunkel wird, kann er die Decke über den Kopf ziehen. Endlich kann er den Tränen freien Lauf lassen, die ihn den ganzen Tag bedrücken. Mit der Hilflosigkeit kommt die Kindheit zurück.
Von Tag zu Tag fühlt er die Kräfte schwinden. Bewegungslosigkeit, das steife Bein und die dürftige Nahrung - dazu das erniedrigende Gefühl, von Gott und der Welt verlassen zu sein. So quält er sich Tag um Tag. Die zweite Woche vergeht, ohne daß etwas passiert. Er kann das linke Bein nicht mehr bewegen. Es ist wie festgeschraubt am Becken.
Endlich ruft die Frau an. Sie bekommt einen Krankentransport von und nach Deutschland. Die Forderung des Krankenhauses: Sie muß zehntausend Deutsche Mark in bar mitbringen. Zum Glück hat sie soviel auf dem eigenen Konto. Sie setzt sich mit in den Krankentransporter aus Berlin, um ihn auszulösen. Eine Möglichkeit einer Banküberweisung nach Vrchlabi existiert seit der Wende nicht mehr. Auch kann Sie das Geld in Berlin nicht in Kronen tauschen. Sie verhandelt im Krankenhaus, da man hier Kronen erwartet. Telefonisch wird der Tageskurs eingeholt. Endlich kann er mit viertausendachthundert Mark ausgelöst werden. Sie ist seit zehn Stunden unterwegs, als sie in Vrchlabi ankommt. Überstürzt wird noch ein Röntgenbild für die Überführung gemacht.
Es dauert keine halbe Stunde, bis die Rückfahrt im deutschen DLRG-Sankra beginnt. Er wird auf eine Art Luftmatraze gelegt, die anschließend luftleer gepumpt wird. Eine Art Kaffeepulver im Innern versteinert die Matraze wie eine Gipsform. Sie ist auf ein Gestell montiert, das in den Transporter eingeschoben und am Boden arretiert wird. Schon das Anlassen des Motors läuft ihm durch Mark und Bein. Jeder Kolbenschlag, jedes Schlagloch erzeugt wieder die unerträglichen Stiche am Oberschenkel-Gelenk. Er bittet um eine Narkose. Man erklärt ihm, daß kein Arzt an Bord sei. Er fühlt sich wie angeschraubt auf der Ladefläche eines leeren LKW. Fieberphantasien kommen.
Ihm wird kalt. Die Frau sitzt bei ihm. Auch sie beginnt zu frieren. Die Heizung funktioniert nicht. Die Fahrer können den Einstellknopf nicht finden. Ab und an, wenn Fahrer oder Beifahrer daran denken, wird sie ein- oder ausgeschaltet. Die Temperatur im Laderaum schwankt stundenlang zwischen null und vierzig Grad.
Noch immer hält er den verschlossenen Umschlag mit den Röntgenaufnahmen in der Hand. Er öffnet ihn. Der Bruch ist schlampig aus einem unmöglichen Winkel geröntgt. Deutlich ist eine zu lang geratene Schraube zur Verdrehsicherung zu erkennen, die sich durch den Oberschenkelkopf hindurch in das Becken bohrt. Es durchzuckt ihn. Plötzlich ahnt er, warum sich das Bein um keinen Millimeter bewegen läßt. Es ist am Becken festgeschraubt.
Jede Vibration teilt sich der unheilvollen, stechenden Verbindung von Bein und Becken mit. Auch sein Kopf vibriert so stark, daß er sie nicht erkennen kann. Sie legt ihm eine Decke unter den Kopf. Anfangs versucht er, sie zu erheitern. Später versucht er herauszufinden, welche Krankheit ihn an das Lager fesselt. Langsam fühlt er, nicht mehr klar denken zu können. Er sieht die Bestürzung in ihrem Gesicht. Er lacht und ereifert sich im Fieber.
Sie bittet die Fahrer um Hilfe. Sie erklären verständnislos, daß dieser Mercedes-Krankentransporter mit Vakuumpritsche allein in Deutschland in tausenden Exemplaren eingesetzt sei - noch nie hätte sich jemand darüber beschwert. Vielleicht hätte man ihm vor Antritt der Fahrt lieber Morphium spritzen sollen - aber das hätte der Arzt im Vrchlabi-Krankenhaus tun müssen.
Angekommen im Krankenhaus Berlin-Neukölln stellt man zunächst Überbelegung fest. Sie mögen doch bitte nach Spandau weiterfahren, dort sind noch freie Betten. Das Maß ist voll. Die zarte Frau beginnt laut zu werden. Wieder wartet er endlos. Schließlich nimmt man ihn doch auf.
Er kommt in ein Vierbettzimmer. Im Bett neben ihm liegt ein cholerischer LSD-Ausnüchterer. Im Vollrausch ist er unter die U-Bahn gekommen, ein Bein bleibt steif. Seit drei Monaten Entzug mit Metadon. Ständig provoziert der vierschrötige Typ. Er sucht Streit. Entweder mit seiner weinerlichen Frau, seinem von Angst gepeinigten Sohn oder mit den Patienten. Er hat das einzige Telefon im Zimmer.
Als der Choleriker mit seinem Rollstuhl draußen ist, klingelt das Telefon. Der Skifahrer greift zum Hörer. Die Frau ist am Apparat. Sie sei gut zuhaus angekommen und werde sich jetzt ausschlafen. Er legt den Hörer auf, als der Choleriker wieder ins Zimmer kommt. Der macht ihn an: Ob er ihn gefragt hätte, ob er das Telefon benutzen könne? Schließlich bezahle er es! Der Typ kommt immer mehr in Fahrt. Er will sich prügeln. Er hat Grund für einen Streit gefunden. Er stürzt sich auf den Skifahrer. Zerrt an dessen Bein. Dreht es. Hebt es hoch. Der Skifahrer wird ohnmächtig. Ein Zimmernachbar drückt die Notruftaste.
Der Skifahrer wird auf den Flur geschoben. Der Choleriker tut sich im Zimmer dicke: Dem habe ich es gezeigt!
Auf dem Flur herrscht auch nachts Betriebsamkeit. Er findet keinen Schlaf. Eine bleierne Gleichgültigkeit beginnt ihn zu ummanteln. Tags wie nachts schläft und wacht er nicht mehr. Er bemerkt die Vorübergehenden im Schlaf wie im Wachsein. Er antwortet wie in Trance.
Als der LSD-Typ mit Rollstuhl am Abend des nächsten Tages aus dem Fernsehraum gerollt kommt und sich wieder schlagen will, ist das Maß voll. Man gibt dem Choleriker ein Einzelzimmer.
Mit der Überführung nach Neukölln hat sich Fieber eingestellt. Vor kurzem noch kerngesund auf der Piste, hatten Operation, mangelnde Ernährung, fehlender Kontakt und neun Tage reglosen Liegens Physis und Psyche zerstört. Die Ärzte zögern mit der zweiten Operation. Die Gelenkkapsel hat sich offenbar auch entzündet.
Ins Zimmer kommt nun ein Abteilungsleiter von Siemens. Er hat sich die Hand gebrochen, ist beim Tapezieren von den Leiter gestürzt. Privatversichert besteht er auf ein Einzelzimmer. "Er sei schließlich...". Alle feixen. Die Einzelzimmer sind belegt. Er geht bereits am nächsten Tag wieder nach hause.
Der nächste ist ein kräftiger, netter Mitfünfziger. Er ist gestürzt und kann seither die Beine nicht mehr bewegen. Mit seiner Frau versucht er Spaß zu machen. Eine Knochenkrankheit hat ihm die Wirbelsäule zerstört. Er kommt nach OP-Saal und drei Tagen Intensivstation auf das Sterbezimmer.
Endlich ist es soweit. Die zweite Operation beginnt statt des Frühstücks mit einer 'Beruhigungsspritze' unbekanntem Inhalts. Unser Skifahrer lebt auf. Er fühlt sich frisch wie seit Wochen nicht mehr, wird ihm später bewußt. Auf dem Weg zum OP weiht er den bettschiebenden Pfleger in die Geheimnisse seiner Entdeckungen ein. Der zuckt hilflos die Schultern, grinst und versucht den Überdrehten zu beruhigen.
Verglichen mit der ersten Operation ist die zweite scheinbar leicht und komplikationslos. Kurz vor Mittag erwacht er wie aus einem gesunden Mittagsschlaf. Der Tag verläuft leicht. Wie erlöst wähnt sich unser Freund gerettet.
Erst gegen abend kommen die Schmerzen. Zur Nachtruhe um zehn hat er noch kein Schmerzmittel bestellt. Er will tapfer sein, glaubt, der Schmerz lasse nach. Die Minuten vergehen. Schlaf stellt sich nicht ein. Stündlich klingelt er und bittet um Schmerz- oder Schlafmittel. Sein zum zweiten Mal operiertes Bein schläft ständig ein. Es wird eiskalt. Er spürt es nicht mehr. Er macht sich Sorgen. Vielleicht sitzt der Strumpf zu eng? Vielleicht sind zu viele Gefäße durchtrennt worden durch den zweiten Schnitt, mit dem die etwa fünfzehn Zentimeter lange, erste Narbe komplett herausgeschnitten werden mußte? Weniger hätte man nicht herausschneiden können, weil das Gewebe durch eine Narbe hindurch nicht versorgt wird.
Mit dem intakten Bein versucht er. das Kaputte zu massieren. Er will den Strumpf ausziehen, schafft es aber nicht allein. Die Schwester weigert sich ihm zu helfen. Alle Stunde klingelt er wieder. Er ist ein nerviger Patient. Die Nachtschwester hat aber zum Glück weder Neigung ihm zuzuhören, noch etwas für ihn übrig. Den Arzt vom Dienst könne sie unmöglich wegen einer solchen Lappalie wecken. Vom Nichtschlafen sei noch keiner gestorben. Er solle das Licht anlassen und Lesen - das beruhige die Nerven.
Um vier Uhr nachts schüttelt ihn der Frost. Das Herz rast. Er wird ohnmächtig. Hochschreckend erkennt er, daß etwas nicht stimmt. Panik kommt auf. Ein Konflikt beginnt ihn zu quälen: Würde er diese Nacht überstehen? Was würde seine Frau sagen, wenn er sie einfach so, ohne Abschied plötzlich verläßt? Er versucht sie anrufen. Er will sich verabschieden. Das Telefon klingelt endlos. Nach dem dritten Versuch gibt er auf. Zum Glück schläft sie fest.
Mit dem Sonnenaufgang stabilisiert sich endlich der Kreislauf. Wie jeden Morgen zählt ein Pfleger mit Kladdenwagen die Patienten. Wie jeden Morgen erklärt er die Parole: "Hilfe zur Selbsthilfe. Die Patienten werden hier nicht eingelullt! Wenn sie etwas zum Zähneputzen oder Waschen brauchen, so sollten sie sich melden!" Unser Patient bestellt sein Waschzeug. Nachdem der Pfleger das Zimmer verlassen hat, bemerkt er das Fehlen der Zahnbürste. Witzbold. Ein andernmal dauert es anderthalb Stunden, ehe der fünfte herbeigerufene Pfleger endlich eine Pfanne bringt. Manchmal kommt schon der Dritte mit Pfanne.
Die Schmerzen haben nachgelassen, er kann das Bein wieder ein wenig bewegen. Nur ein Stechen ist geblieben. Noch immer beobachtet er neidisch die kuchenessenden Nachbarn. Noch immer erhält er Diät, obwohl seine Zuckerwerte längst wieder normal sind. Wieder nähren ihn Brosamen, die Zimmerkollegen übrig lassen. Seine Frau nimmt die Ärzte ernst. Wegen der Kinder kann sie nur selten kommen.
Es ist Sonntag. Die Sonne scheint. Es wird Frühling. Alles ist in ersten, grellen Sonnenschein getaucht. Die ersten Krokusse schieben ihre Köpfe empor. Zum Nachmittag haben sich Frau und Kinder angesagt. Sehnsüchtig zählt er die Stunden.
Voller Freude begrüßt sich das liebende Paar. Nach dem Austausch der Neuigkeiten öffnet die Frau ihren Einkaufskorb. Sie hat ihm Anziehsachen mitgebracht: einen Trainingsanzug, Socken, Unterwäsche und Turnschuhe. Dann holt sie für ihn eine Bäckertüte hervor. Die jüngste Tochter erblickt die Tüte, nimmt sie und bringt einen Kipfel hervor. Einen einzigen. Mama mahnt: "Der ist für Papa!" Die Tochter bettelt: "Papi, darf ich den essen?" Seine Frau bekräftigt die strenge Diät des Papas. Sein Blick kehrt sich nach innen. Tränen beginnen ihn zu würgen, während er der Tochter freundlich zunickt. Langsam entschwindet ihm die Umgebung. Ruhig und erschöpft läßt er sich in die Kissen sinken. Der Mund wird trocken. Er verstummt. Kraftlos schließt er die Augen und dämmert dahin.
Die Frau registriert seine Veränderung. Vergeblich versucht sie in ihn zu dringen, ihn zu wecken. Erfolglos. Frau und Tochter verabschieden sich unschlüssig. Noch immer fragenden Blickes gießt die Frau seine Blumen. Dann gehen sie wortlos. Noch während er in den Schlaf gleitet, versucht er zu ergründen, warum sich nur ein Kipfel in der Tüte befand. Tränen wollen nicht mehr kommen. Der Unfall hat sein Leben verändert.
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Aufgeschrieben im Krankenhaus Berlin-Neukölln am 5. März 1994
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