Seite 18/19     TEST UND TECHNIK     FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG    Nr. 52 / 27. Dezember 2001   AUTOMOBILREVUE

Harmonisches Lärmorchester

Innenraumakustik Der Konsument beurteilt die Qualität und Eigenschaft eines Autos - vielfach unbewusst - immer öfter mit dem Gehör. Mit grossem Aufwand suchen die Hersteller nach dem optimalen Klangbild im Innenraum, vom Ansaug- und Auspuffgeräusch bis zum Surren des Scheibenhebermotors. Letzter Schrei in der Akustikabteilung: eine Kamera, die nicht nur sehen, sondern auch hören kann.

 
 

Christian Tschachtli
Das Geräusch im Innenraum bestimmt weitgehend die Art des Fahrzeuges - und umgekehrt. Ein Sportwagen soll nach kräftigen Gaswechselgeräuschen klingen, aber bitte erst bei Vollast. Ein Luxuswagen wiederum sollte so ruhig wie möglich vor sich hin gleiten, beim Tritt aufs Gaspedal dürfte sich der V8 akustisch allerdings schon etwas bemerkbar machen. Das Pfeifen einer Lenkhilfe- oder Benzinpumpe ist sowieso tabu, und wird die Türe zugeschlagen, darf der Vorgang nicht klingen, als liesse man einen Sack voller Konservendosen zu Boden fallen.

Nebst der Realisierung dieser teils unterdrückten, teils provozierten Geräuscheffekte - der so genannten Psychoakustik - hat der Akustiker in der Fahrzeugentwicklung eine weitere Kernaufgabe zu lösen: Unerwünschte Geräusche können gewaltig nerven, rund 40 % der Kundenreklamationen finden ihren Ursprung über den Gehörsinn.

Binaural

Die Psychoakustik versucht also das Hörempfinden des Menschen in den Vordergrund zu stellen, was nicht immer einfach ist. Die Sound-Ingenieure messen einerseits zeitliche Schalldruckpegel- und Frequenzverläufe, die subjektive Beurteilung eines Geräuschs geschieht aber schliesslich immer über das menschliche Ohr.

Um die objektiven Messresultate mit dem Hörempfinden des Menschen abzugleichen, werden so genannte binaurale Schallaufnahmen durchgeführt. In einem Kunstkopf sind die Mikrofone im Abstand der menschlichen Ohren angebracht. Die Aufnahme wird mit speziellen Filtern derart weiterverarbeitet, dass bei der Wiedergabe das Gefühl entsteht, man sitze «mittendrin». Ein Geräusch in einem Raum, dessen Ursprung der Mensch beispielsweise von oben rechts ortete, wird auch bei der Wiedergabe von oben rechts ertönen.


Das Klangbild ist definiert, bevor ein Stück Hardware produziert wird.


Testpersonen beurteilen

Die Hersteller lassen die so simulierten Innenraumgeräusche vielfach von Testpersonen beurteilen, die Verschmelzung von physikalischen Messdaten und subjektivem Hörempfinden wird so perfektioniert. Verblüffend ist die Tatsache, dass dies nicht etwa in einer Prototypphase, sondern ganz zu Beginn der Fahrzeugentwicklung geschieht. Im Lastenheft steht also auch ein ganz bestimmter, zum Fahrzeug passender Sound, meist definiert von der Marketingabteilung. Ein Ferrari darf schliesslich nicht nach Daewoo, ein Vierzylinder nicht nach Zwölfzylinder klingen.

Die Geräuschanteile von Ansaug- und Abgasanlage, die Übertragungsfunktionen von Körperschall (z. B Aggregatlager) und Luftschall (z. B Hohlräume) in den Innenraum werden mit komplexen Berechnungsmodellen simuliert.

Überlappung des optischen und des akustischen Abbildes.
Dominante Strahlungsverursacher können relativ schnell lokalisiert werden.


Die gesamte Übertragungskette der Schwingungen ist definiert; der gewünschte Grundsound kann mit Hilfe entsprechender Softwarewerkzeuge bereits festgelegt werden, noch «bevor ein Stück Hardware produziert wurde», so Franz Brandl von der AVL List GmbH.

In der Prototypenphase können meist nur noch Feinschliffarbeiten durchgeführt werden. Für die Gesamtfahrzeugakustik (NVH - «Noise, Vibration, Harshness») relevante, grobe Fehler sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu eliminieren.

Teil des Gesamtsystems

Die Darstellung von Geräuschen - meist in 3D-Diagrammen mit den zeitlich aufgelösten Parametern Schallpegel und Frequenz - sei deshalb «für den Akustiker eminent wichtig», so Rolf von Sievers, Leiter der Akustik- und Schwingungsabteilung bei Porsche. Der Sound-Ingenieur ist Teil des Gesamtsystems und muss sich als solcher durchsetzen können, damit auch «der Spiegelfussdesigner von einer vibrationsarmen Anbringung des Aussenspiegels überzeugt werden kann», so von Sivers pragmatisches Beispiel bezüglich der Zielkonflikte während der Entwicklungsphase.
Die Detailarbeit ist beeindruckend: Allein in der Weissacher Entwicklungsabteilung von Porsche, zwar feiner, aber doch kleiner Automobilhersteller, sind 50 Techniker mit dem Thema Akustik beschäftigt. Da werden akribisch genau Türzuschlaggeräusche analysiert und Klangbilder von Scheibenhebern beurteilt (siehe Grafik). Die Türe sollte übrigens satt und nicht zu hell klingen, der Fensterheber neben einem niedrigen Geräuschpegel möglichst ohne Tonhöhenschwankungen arbeiten.

Akustische Kamera

Für einen regelrechten Aufruhr in der Akustikbranche sorgte kürzlich die erste kommerzialisierte Version der so genannten «akustischen Kamera» der Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik (GFaI) in Berlin. Das Prinzip ist schnell erklärt: Eine Videokamera filmt das schallerzeugende Objekt, während gleichzeitig eine bestimmte Anordnung von Mikrofonen (Array) die emittierten Schallwellen örtlich präzis registriert. Das akustische und optische Abbild wird anschliessend überlagert. Somit kann eruiert werden, welcher Teil des gefilmten Objektes wie viel Lärm in welchem Frequenzspektrum abstrahlt.

Die Vorteile des Systems liegen einerseits in der Anschaulichkeit der akustischen Abstrahlungsvorgänge - eine unerwünschte Schallquelle kann direkt anhand der Abbildung des Objekts geortet werden -, anderseits in der massiven Vereinfachung des Messaufwandes. Ausserdem scheint das Anwendungsspektrum schier unbegrenzt zu sein: Neben einem 1,5-MW-Windkraftwerk mit Rotorblättern von 70 m Durchmesser wurde bisher auch ein elektrischer Funkenschlag von 8 mm Länge erfolgreich «akustisch gefilmt».

Breites Spektrum Das bisher grösste von der akustischen Kamera erfasste Messobjekt: Ein 1,5-MW-Windkraftwerk mit Rotorblättern von 70 m Durchmesser 


Rätselhaftes «Knacken»

Das grosse Medienecho rund um die Entwicklung von Gerd Heinz und seines sechsköpfigen Teams der GFaI liess auch die Automobilindustrie nicht kalt.

Porsche beispielsweise verfolgte laufend den Fortschritt und stellte Messobjekte zur Verfügung, bis schliesslich im Sommer dieses Jahres zwei Geräte gekauft wurden.

In Weissach ist man von dieser Lösung überzeugt: «Bisher mussten die Mikros im akustischen Nahfeld des Objektes aufgestellt werden, was bei einem Motor auf dem Prüfstand einigen Zentimetern entspricht - neben einem 700 °C heissen Auspuff keine einfache Sache», so Siegfried Mayer von Porsche. Die Kamera und die 32 Mikrofone in kugelförmiger Anordnung hingegen lassen sich irgendwo im Raum aufstellen.

Die Vorgänge können auch in einer Art Film beobachtet werden. Die Kamera schiesst je nach Anwendung bis zu 192.000 Bilder pro Sekunde. Ein rätselhaftes «Knacken» in neuen Karosserieblechen des Heckbereichs konnte im Hause Porsche auf diese Weise jedenfalls bereits analysiert werden: Die Bildfolge zeigte die Schallquelle und den weiteren Verlauf des Geräuschs im Heckblech deutlich auf (siehe Bild).



Kugelförmige Mikrofonanordnung für die 360°-Aufnahme (mit Entwickler Gerd Heinz), Überlagerung der Resultate auf eine 3D-Innenraumsimulation im Bild darüber

Schwierige Interpretation. Doch Messen ist eine Sache, die Interpretation der Resultate eine andere, denn da ist meist viel Erfahrung gefragt. Wie alle Teilgebiete aus der Schwingungstechnik unterliegt auch der Schall den Phänomenen von Wellenreflektion, -beugung oder -bündelung.

Das heisst, der Strahlungsverursacher ist nicht immer der Strahler selbst. Im Falle des erwähnten Heckblechs lag die Ursache des Geräuschs in Lackbrücken zwischen zwei Blechen, welche - einmal «geknackt» - wieder für Ruhe sorgten. Die Teile werden jetzt geklebt.


Die akustische Kamera könne allerdings meist nur zur Bestimmung von Oberflächenabstrahlungen von Körpern zuverlässig eingesetzt werden, so die Meinung in Weissach. Für die Bestimmung von Übertragungsfunktionen von einem Bauteil auf den andern sind andere Analysemethoden weiterhin unumgänglich.

3D-Innenraumsimulation

Das Kugel-Array ermöglicht auch 360°-Messungen in abgeschlossenen Räumen, wie etwa im Passagierbereich einer Fahrzeugkarosserie. Mit einer sphärischen Betrachtung der Dinge kann die Optik natürlich nicht mehr mithalten; die gemessenen Schallpegel werden statt auf ein Videobild auf eine simulierte 3D-Innenraumlandschaft «gelegt».
Angeregt wird die Karosseriestruktur auf einem Hydropulser - einer 4-Stempel-Anlage, wo die Fahrzeugkarosserie an den vier Aufstandspunkten der Räder einzeln belastet werden kann.
Von jedem Bauteil im Interieur kann so bei bestimmten Anregungen nicht nur die Geräuschabstrahlung bestimmt, sondern auch beobachtet werden, wann ein Objekt im In- nenraum auf Grund welcher Belastung der Karosserie wie lange und in welchem Frequenzspektrum lärmt.
Zur Synchronisation des Gesamtorchesters ist dies ein wahrhaft hilfreiches Werkzeug.

- gekürzt -