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Können Nervennetze mit Takten synchronisiert werden?

Warum Weihnachten 1992 zum schönsten Fest wurde
Erste Zweifel an den sogenannten "Neuronalen Netzwerken"


Als Mikroelektroniker arbeitete ich 1991 an einem Prestigeobjekt mit, am damals größten Schaltkreis (Integrated Circuit - IC) Deutschlands (oder der Welt?). Auf einer Siliziumfläche von 14x14 mm² brachten wir 860.000 Transistoren mit vielen tausend Logikgattern unter (Abb.). Da die Taktfrequenz dieses IC mit 154 MHz sehr hoch und unabänderlich vorgegeben war, bestand ein zentrales Problem darin, die Gatter und Baugruppen so anzuordnen, daß nirgends ein Taktsignal zu spät ankommt, selbst wenn es über den ganzen Chip laufen muß. Eine Reduktion der Taktrate wäre das Aus für den Entwurf gewesen.

Dazu muß man wissen, daß unsere gesamte PC-Welt, all unser digitales Wissen, auf Schaltungen Boolescher Art (CMOS-Gatter) und Zustandsautomaten (state machines: Latches, Flip-Flops, ROM, RAM, PLA) aufgebaut ist. Hier werden alle Datenflüsse über sog. Latches synchronisiert. Deren Takt-Synchronsignale (clocks) sind von einem zentralen Takt abgeleitet. Dieser Takt aber ist oft sehr weit und zu lange Zeit unterwegs, um entlegene Ecken des Chips zu erreichen. Die Signale wiederum sind auch immer länger unterwegs, je kleiner die Strukturen werden, je größer der Chip wird und je schneller der Takt wird.

Gleichzeitigkeit wird folglich mit steigendem Integrationsgrad mehr und mehr zum Problem. Noch größere und schnellere ICs brauchen separate Clocks für jede Baugruppe.

Abb.: CMOS-IC mit 0,7 µm Gatelänge, 860.000 Transistoren, drei Leitbahn-Ebenen (rot, grün, blau), 14x14 mm. Die einzelnen Leitbahnen, Transistoren oder Gatter sind zu winzig und nicht mehr zu erkennen. Foto: G. Heinz.

Jeder digitale IC, gleich ob Mikroprozessor oder Speicher oder Peripherie funktioniert in ähnlicher Weise. Wenn nur ein einziges Signal auf langen Leitbahnen zu lange unterwegs ist, arbeitet ein IC nicht mehr korrekt. Dabei muß ein Eingangssignal solange am nächsten Latch anliegen, bis das Latch die Taktflanke erhält, damit die Information übernommen werden kann.

Der Takt ist bei großen, schnellen IC nirgends mehr gleichzeitig. Gleichzeitigkeit wird mit zunehmender Größe, Gatterzahl und zunehmender Taktfrequenz unmöglich. Andere Philosophien sind dann gefragt. Regionen von Gleichzeitigkeit sind durch asynchrone Schnittstellen voreinander zu entkoppeln, so wie in Rechnernetzen üblich.

Im Gegensatz dazu ist Gleichzeitigkeit im Nervennetz undenkbar. Neuronen liefern messerscharfe Spikes mit geometrischen Längen im Millimeter oder Mikrometerbereich. Latches und Takte sind im Nervensystem wohl eher unbekannt. Auch sind Leitgeschwindigkeiten eine Million mal geringer, als auf ICs.

Wenn wir beim IC sehr grob von einer Leitgeschwindigkeit von zehn Millionen Meter pro Sekunde (10.000 km/s) ausgehen, so sind es bei Nervenfasern gerade einige Zentimeter bis Meter pro Sekunde. Die Leitbahnen eines IC leiten also Millionen mal schneller - und trotzdem waren mit diesem IC die Grenzen konventioneller Schaltungstechnik erreicht. Entweder konnten Latches links oben oder rechts unten korrekt takten, Gleichzeitigkeit aber war nur noch mit einem von allen Seiten sechsfach eingebrachten Clock zu erreichen.

Es stellte sich die Frage, wie ein millionenfach langsameres Netzwerk - dessen Gleichzeitigkeitsprobleme millionenfach schwieriger zu lösen sind - wie ein solches Netzwerk millionenfach komplexere Dinge erledigen kann, als ein IC.

Noch heute sind wir mit den größten Rechnern nicht annähernd in der Lage, die Bewegungssteuerung einer Fliege in Echtzeit vorzunehmen. Dabei hat diese gerade einmal dreihunderttausend Neuronen.

Dazu kommt, daß die Größe unseres Denkorgans in x- und y-Richtung rund zehnmal größer ist als dieser IC, in z-Richtung sogar tausende Male (alle Gatter eines IC liegen in einer 2-dimensionalen Ebene). Multiplizieren wir x mit y und z, so mag unser Cortex grob 100.000 mal größer als dieser IC sein.

Wenn wir von etwa vergleichbaren Leitbahndicken ausgehen, so finden wir im Cortex im Fazit durchschnittlich zehnfach längere Leitbahnen bei 10 Millionen mal geringerer Leitgeschwindigkeit. Dafür aber wartet offenbar kein Signal auf einen Takt.

Die Informatik-Probleme skalieren zum Nervensystem hin in allen Parametern gleichzeitig in die unglücklichste Richtung. Schlußendlich haben wir im Nervensystem ein Synchronisationsproblem vor uns, welches rund 10.000.000 mal 10 mal 100.000 ~ 10.000 Milliarden mal härter ist, als bei unserem IC.

Ich fragte mich 1992, wie das gehen soll. Für einen Mikroelektroniker wäre die Aufgabe, mit millionenfach langsameren Leitbahnen einen IC entwickeln zu müssen, der zehntausendfach größer ist und dafür tausendfach komplexere Dinge erledigen kann, pure Phantasie.

Worin also liegt das Geheimnis der Nervennetze? Wie funktionieren sie? Offenbar ganz anders, als bislang gedacht?

Der Schluß liegt nahe, daß die Natur eine irgendwie abweichende Informatik erfunden haben muß - wie anders kann sie Daten in so komplexen Netzwerken vernünftig bearbeiten?

1992 gab es noch große Etats für Forschungen zu damals sogenannnten "Neuronalen Netzen - NN" (heute "Artifical Neural Nets" - ANN). Aber zu unserem Erstaunen sind auch diese getaktet! Auch ANNs gehen vom Postulat der Gleichzeitigkeit aus, es sind durchweg State Machines. ANN können uns in der Frage der Vermeidung von Gleichzeitigkeit oder von Takten nicht weiterhelfen.

Viel schlimmer noch: unsere gesamte mathematische Methodik und Deduktion basiert auf i und i+1 und i+2, also auf Zuständen (states) und deren Gleichzeitigkeit gemessen an einer Zeitachse.

Die Entdeckung war schließlich: Gleichzeitigkeit läßt sich auch taktlos erzeugen - durch Korrelation eines pulsförmigen Signals mit sich selbst oder mit seinen Verwandten: den Vorgängern oder Nachfolgern. Ersteres nannte ich Selbstinterferenz, letzteres Fremdinterferenz (Link).

Leider aber standen alle 1992 recherchierten Quellen gegen diese Annahme. EEG-Geräte hatten eine Grenzfrequenz von wenigen kHz, sie waren damals noch sehr langsam. Die Annahme, daß Pulse geometrisch sehr kurz sein können, fand ich erst später bestätigt.

So war es an mir, irgendeinen Nachweis finden zu können, daß eine solche taktfreie Gleichzeitigkeit tatsächlich irgendwo im Nervensystem stattfinden kann.

Der Zufall wollte es, daß ich bei einer Geburtstags-Party eines guten Freundes am 8. März 1992 den Neurologen Dr. Torsten Griepentrog kennenlernte. Ich stellte ihm die Frage, ob man irgendwo am Körper nichtinvasiv mehrere Nervenstränge gleichzeitig beobachten könne. Er verwies auf eine dafür geeignete Stelle: Am Handgelenk lassen sich zwei Nerven gut ableiten: nervus radialis und nervus medianus.

Nun waren Literaturstudium und Nachdenken angesagt. Die Ideen zu den taktfreien, nervlichen Netzwerken nahmen ganz allmählich Form an. Später sollten sie zu einer Umbenennung der getakteten, "neuronalen Netze" in künstlich-neuronale Netze (Artifical Neural Networks - ANN) führen. Und irgendwann hatte ich eine Idee für ein Experiment. Wir vereinbarten einen Versuchstermin kurz vor Weihnachten in Torstens Praxis in Teupitz.

Wir trafen uns am 16. Dezember 1992 am späten Nachmittag im Klinikum Teupitz, um ein Daumenexperiment zu versuchen. Es wurde bereits dunkel. Und es schneite. Als ich über dass Klinikgelände schritt, herrschte vollkommene Stille. Überall glänzten Lichterketten - eine Prophezeiung?

Das Experiment gelang: Je nach Daumenstellung sahen wir unterschiedliche Verzögerungen zwischen den zwei beobachteten Nervenfasern. Ich war so überwältigt, daß ich vor Freude zitterte. Ich hätte heulen können. Die theoretischen Grundlagen, die danach zum Buch "Neuronale Interferenzen" führten, waren da großenteils schon in Skizzen fixiert.

Es wurde das schönste Weihnachtsfest meines Lebens.

1993 wurde unter Zeitdruck in drei Monaten tags und nachts das Manuskript "Neuronale Interferenzen" geschrieben.

Die eigentlich-neuronalen Netze, die Interferenznetzwerke (IN) waren geboren. Später entstanden daraus die Interferenzintegrale, die Interferenzabbildungen (I.-Projektionen und I.-Rekonstruktionen) und die akustische Photo- und Kinematographie (Akustische Kamera).

Immerhin ein Anfang.



Lesen Sie hier weiter, wie McCulloch/Pitts Idee 1943 die Welt veränderte und sich die relative Gleichzeitigkeit nach Lloyd A. Jeffress 1948 für fast fünfzig Jahre in den Dornröschenschlaf begab...




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